4. Stifterversammlung

Rückblick auf die 4. Stifterversammlung
Vortrag von Pfarrer Dietmar Selunka zur Thema:

Herden, Fährten, Furten und Biotope- ein Versuch, etwas anders über die Gemeinde und ihre Zukunft zu sprechen

Vortrag zur Stifterversammlung am 7. November 2010 im Kirchgemeindehaus, Grundstraße 36

Sehr verehrte, liebe Stifterinnen und Stifter,
viele haben mir, als sie die Ankündigung dieses Titels für einen Vortrag zu unserer Stifterversammlung zum ersten Male gelesen haben, ihre Verwunderung und auch Neugier bekannt.
In der Tat sind die von mir gewählten Begriffe ungewöhnlich für die Beschreibung der Kirche und ihrer Zukunft. Ich wäre auch nicht darauf gekommen, wenn nicht die seit 10 Jahren geführte Diskussion über die zukünftige Gestalt unserer Kirche sich immer stärker mit Fachbegriffen der Soziologie und der Wirtschaftswissenschaften aufgeladen hätte:
Demografischer Umbruch, Paradigmenwechsel, Organisationsnetz, ausdifferenzierte Infrastruktur, Ressourcen, Leitungskompetenzen und Berufsranking, Megatrends usw. usf.
Ich halte die Verwendung dieser Begriffe für die Beschreibung der Kirche keineswegs für abwegig, aber sie bergen in sich die Gefahr, Phänomene und Erfahrungen dessen, was wir die Kirche, die Gemeinde nennen, was wir Glauben und Vertrauen nennen, nur noch einseitig empirisch-wissenschaftlich zu beschreiben. Dem gegenüber versuche ich mit den oben genannten Begriffen an Lebenszusammenhänge anzuknüpfen, die gewisse archaische Elemente enthalten und uns vielleicht auch mit früheren Generationen stärker verbinden.
Denn noch nie konnten vor uns Theologen und Kirchenlehrer derartige Studien über die Zukunft anstellen, wie wir das heute tun mit unserer Berechnungen und Prognosen. Sie hatten immer nur das Vertrauen zu Gott und ein Gefühl für das rechte Maß bei allen menschlichen Dingen und auch im Hinblick auf die Natur.
So will ich mich nun den oben genannten Lebensorten, die allesamt Jahrtausende lang wichtig waren, zuwenden, um ihnen ein paar Erfahrungen abzugewinnen, die auch für uns weiter wichtig sein könnten, wenn wir an unsere Gemeinde denken und ihre Perspektive für die Zukunft.

Herden:
Von Herden erzählt uns ja die ganze Bibel. Die nomadische Existenz der Erzväter Abraham, Isaak und Jakob, die mit ihren Herden durch das Land ziehen und die in ihnen ihren Reichtum besitzen, wird bald zum Bild für die Familien und das ganze Volk Israel. So spricht Jesaja von Gott: „Er wird seine Herde weiden wie ein Hirte“. Das Bild des guten Hirten führt vom Psalm 23 auch direkt zu Jesus. „Ich bin der gute Hirte, es wird eine Herde und ein Hirte werden.“ (Joh 10,16)
Kirchengeschichtlich ist dieses Bild zu einer nahezu zeitlosen Grundbeschreibung der Kirche geworden. Der Krummstab des Bischofs gehört zu den Insignien einer Kirche, die sich als Herde unter einem Hirten versteht.
Freilich gibt es dabei auch eine Reihe von bedenklichen Assoziationen hinsichtlich des autoritativen Gefälles in einer Herde und der damit immer wieder erwähnten Unmündigkeit der Schafe, sprich der Kirchenmitglieder. Was ich nun dennoch für unverzichtbar und wesentlich halte im Bild der Herde, ist die elementare Erfahrung von Nähe, Wärme und Geborgenheit.
Jede auf einen festen Ort, auf ein Dorf oder eine Stadt bezogene Kirchgemeinde lebt davon, dass sich die Menschen kennen, eine Nähe zueinander aufbauen können, sich in einer größeren Kollektivität als bergende und schützende Gemeinschaft erleben. In dem Sinne ist es das Merkmal einer Herde: ich gehöre einfach dazu, ich kann mich führen lassen, ich muss keine Verantwortung übernehmen, ich kann hören, zuhören und mich trösten lassen, aber ich kann auch, wenn bestimmte Aufgaben anstehen und ich meine Gaben habe, ganz nach vorn gehen, ich kann rennen und aufblöken, wenn mir der Weg nicht richtig zu sein scheint. Und ich kann mich mit großer Hingabe um schwächere Mitglieder der Herde – meine Gemeinde – kümmern.
Wer diese menschlichen Bedürfnisse nach Geborgenheit kritisiert und Zuhören, Schweigen und Gewähren lassen als passives Konsumieren oder eben bedauernswerte Unmündigkeit meint verurteilen zu müssen, geht an der Realität des Lebens vorbei.
Gerade auf dem Hintergrund der Möglichkeit, sich führen zu lassen, entwickelt sich auch zugleich das Bedürfnis des Führens als Möglichkeit der Mitgestaltung in der Herde. Beide Grundmuster menschlichen Verhaltens bedingen einander.
Das hohe ehrenamtliche Engagement auch in unserer Gemeinde ist ein beredtes Zeugnis davon. Weil ich mich aufgehoben und angenommen fühle, bin ich umso mehr bereit, mich einzubringen. Darin überschreitet unsere heutige großartige Partizipationsbereitschaft das Herdenmodell früherer Jahrhunderte um vieles, hat aber darin gerade ihre Voraussetzung.

Es ist dem entsprechend die hohe Verantwortung und der Anspruch an die Sensibilität des Hirten und aller Leitenden, die Gemeinde als Herde so zu sehen, sie so zu leiten und auch in einem gewissen Sinne zu repräsentieren. Dies kann nur aus der Erfahrung des tiefen Vertrauens geschehen. Dabei wird das historische Wissen um alle Gefahren des Führens ein heutiges modernes Hirtenamt vor Missbrauch schützen. In der Herde ist man geborgen und es ist warm, und das braucht jeder Mensch und auch jedes Tier. Kamelien als Vertreter der Pflanzen blühen z.B. auch wesentlich besser, wenn sie im Familienverbund, als „Herde“ zusammen stehen
Wärme und Geborgenheit sind unersetzbare Merkmale einer Gemeinde. Das alles setzt auch eine bestimmt Größe bzw. Kleinheit der Herde voraus. Diese nicht leicht bestimmbare Größe wird in der Regel lebenspraktisch, kommunikativ von unten hergestellt, bei den Tieren durch Vermehrung, aber auch bei den Menschen durch Familien und Freundschaften und durch ein Klima der Sympathie, das der Fremde, der Suchende, prinzipiell als Einladung empfindet. Kirchenhistorische Untersuchungen zur Mission haben ergeben, dass Gemeinden, also christliche Herden, vor allem durch unmittelbare menschliche Kontakte in Familien und Freundschaften entstanden sind. Die anonym auf dem Marktplatz proklamierte Herde gibt es nicht. Herden entwickeln ihre Identität von unten. Konstruktionen von oben sind in der Regel lebensunfreundlich. Wir wissen auch: Herden haben einen Stallgeruch. Die Gemeinde als Herde hat den Stallgeruch einer prinzipiellen gegenseitigen Wohlgesonnenheit, die sich aus der Botschaft der ewigen Wohlgesonnenheit Gottes konstituiert. Diese Botschaft hört sie an einem festen Ort, wo sie sich trifft. Menschen, die ganz anders denken und ganz anderes wollen, werden nicht zur Herde der Kirche finden. Sie werden andere eigene Herden oder Konventikel gründen in der Vielfalt der heutigen Gesellschaft. Was Gott mit ihnen vorhat, darüber müssen wir uns keine Gedanken machen.
Der Begriff der Herde setzt eine Abgegrenztheit neben anderen lebendigen Formationen voraus.
Der Ort, wo sich die Herde als Gemeinde trifft, ist deshalb auch von großer Bedeutung. Am Anfang war es ja ein Stall, in dem Ochs und Esel Gastgeber der Heiligen Familie waren. Daraus sind Kirchen geworden, repräsentative Räume für die Geborgenheit, in der die Herde umschlossen und geschützt ist und sich wie einen Körper erfährt in der Gemeinsamkeit des Hörens auf Gottes Wort und in der Feier des Heiligen Abendmahles. Wir Loschwitzer und Wachwitzer wissen nur zu gut, welche Identität stiftende Kraft von diesem Raum ausgeht und welche sammelnde und bergende Kraft unsere Kirche am Fuße der alten Loschwitzer Weinberge hat. Gleichermaßen gehört als Wesenzug zu einer Herde auch der Vorrang des Konsenses. Man versammelt sich nicht, um Kontroversen auszutragen, sondern um eine verbindende Gemeinsamkeit zu erfahren. Herden, in denen nur gestritten und rivalisiert wird, zerfallen.
Das Neue Testament nennt die Suche nach dem Konsens die Suche nach der Einheit. Dieses hohe Gut wird nicht erreicht durch Bevormundung, autoritäre Macht und das Niederhalten anderer Meinungen, sondern durch eine hoch entwickelte Kultur des anhaltenden Gespräches, man könnte auch sagen: eines dauerhaften „Blök-Palavers“, denn es geht in der Herde um die Teilhabe aller. Dies kann nur geschehen in dem Bewusstsein, dass alle Schafe unter dem einen Hirten Jesus Christus stehen und von seiner Weisheit und Liebe leben. Die Gemeinde, die Herde, darf sich bei all dem aber nicht als abgeschlossene Größe verstehen. Hier liegt ihr sensibelster und schwächster Punkt.
Sie ist dann stark und lebendig, wenn Menschen, die mit Erwartungen kommen, verirrte „Schafe“ als Suchende oder auch nur Neugierige, wenn sie Einlass finden, offene Türen und offene Ohren und ein offenes Herz – Klima der Sympathie.
Diese Offenheit, diese Unschärfe an ihrer Außengrenze, ist für die Zukunftsfähigkeit der Gemeinde, der unsrigen wie der ganzen Kirche, von großer Bedeutung. Und so bin ich auch beim nächsten Wort: den Fährten.
Vielleicht der ungewöhnlichste Begriff im Zusammenhang der Gemeinde und ihrer Zukunft.
Als Fährte bezeichnet man die auf dem Erdboden oder im Schnee hinterlassenen „Fußabdrücke“ eines Lebewesens. Wir können diese auch Spuren nennen. Aus Fährten und menschlichen Spuren sind im Laufe der Geschichte Wege und Straßen entstanden. Es sind verdichtete Fährten. Bevor sich solche Fährten, solche Straßen entwickeln können, braucht es bestimmte geologisch-geografische Profile, Landschaften mit der Voraussetzung zu bestimmten Wegen.
Wenn wir an unseren Ort Loschwitz denken, so sind die Fährten recht klar zu sehen: Die Pillnitzer Landstrasse, die als Weg zwischen Steilabfall des Granits der Lausitzer Platte und dem Fluss geradezu erzwungen wird, will man nach Süden vorankommen; das Tal des Loschwitzbaches mit der heutigen Grundstrasse, will man das Höhenprofil mit erträglichem Fußmarsch und mit Fahrzeugen erreichen; und die Fährte durch die Elbe, die früher vielleicht einmal eine Furt war – sie wurde früh zur Fähre und ist seit reichlich hundert Jahren eine Brücke, über die wir fast täglich fahren.
Friedrich Wilhelm Pohle spricht in seiner Chronik von Loschwitz als einem uralten Fährort. Die Gebäude, die davon zeugen, sehen wir ja noch auf der Friedrich-Wieck-Straße.
Wenn wir uns also auf diesen Wegen bewegen, gegen wir auf uralten Fährten. Diese Fährten sind Zeugen unserer Geschichte und sie bestimmen unser Leben als Koordinaten für Räume, in denen wir siedeln und wohnen, in denen wir zu Hause sind, in denen wir Ziele anstreben und wieder zu uns zurückkehren können. Sie kanalisieren auch unsere Begegnungen. Man geht mit einander in die gleiche Richtung, man begegnet sich, man muss sich wahrnehmen, man grüßt sich, man nimmt sich mit.
Es war für den Bau von Kirchen eines der großen Motive, sie an bestimmten Fährten, an hoch frequentierten Wegen zu errichten, sie so in das öffentliche Leben hinein zu stellen, damit Menschen in ihnen einkehren können, um Stärkung und Trost zu erfahren.
Die Dresdner Kreuzkirche, die ursprünglich ja eine Nikolaikirche war – dem Heiligen Nikolaus geweiht als dem Patron der Händler und Reisenden – steht an der Kreuzung großer mittelalterlicher Hauptfährten, die nach den großen Himmelsrichtungen und nahe gelegenen Städten wir Pirna und Meißen, Freiberg und Bautzen führen.
Unsere Loschwitzer Kirche wurde aus verschiedenen Gründen nicht im Gebiet des alten Rundlingdorfes Loschwitz gebaut, aber in die unmittelbare Nähe an den Rand gerückt und damit an eine der wichtigen Fährten unserer Lebensraumes gestellt, dem Weg nach Pillnitz.
Seit 1708, dem Jahr ihrer Weihe, hat sie ganz neue Fährten konstituiert, nämlich Wege zu ihr hin und auch wieder zurück in den Raum des Zu Hauses von Menschen und Familien.
Solche Wege zur Kirche hin bilden sich in der inneren Geografie eines Lebens zu wichtigen Wegen aus. Menschen gehen mit ihren Kindern zur Taufe dorthin, Hochzeitsgesellschaften ziehen feierlich durch den Ort und ziehen über die Rampe in die Kirche hinein, begleitet von Zuschauern und anderen Gästen, gleichermaßen sind es ehrwürdige und ernste Prozessionen, wenn Trauerzüge von der Kirche einen Verstorbenen zur letzen Ruhe auf den Friedhof geleiten. Und Sonntag für Sonntag strömen unter dem Geläut der Glocken die Menschen zum Gottesdienst. Die Fährten zu unserer Kirche arbeiten mit an der Identität dieses geistlichen Ortes.
Deshalb ist es nicht unproblematisch, wenn heute ohne Rücksicht auf solche historisch entwickelten Fährten Menschen aufgefordert werden, plötzlich ganz andere Wege zu gehen zu ganz anderen Kirchen. Von Tieren weiß man, dass sie mit großer Treue und Regelmäßigkeit immer die gleichen Fährten benutzen.
Mag Neues auch interessant sein, die Vertrautheit von Wegen und auch damit verbundenen Blickbeziehungen gehört mit in den großen Wortschatz hinein, aus dem sich für uns Menschen der Begriff der Heimat konstituiert.
In all diesen Dingen wissen wir auch, dass Menschen, wenn es um Wege geht, einfach auch mit den Füßen abstimmen und den Wegen folgen, die ihnen etwas bedeuten.

Furten
Furten sind gangbare Stellen durch einen Fluss. Das Wort ist urverwandt mit dem lateinischen portus, porta – Hafen, Tor.
Gerade Furten waren in frühen Zeiten der Menschheit von größter Bedeutung, um eine scheinbar unüberwindliche Grenze, wie den Fluss, zu durchschreiten und das andere Ufer zu erreichen. Viele Stadtgründungen gehen auf solche Furten zurück und tragen die Furt noch in ihrem Namen. Wie z.B. Frankfurt als Furt der Franken am Main oder im Englischen die Stadt Oxfort.
Auch die slawische Ansiedlung Loschwitz und vielleicht auch noch frühere Lebensspuren dieses Ortes könnten auf eine Furt zurückgehen, die durch die Aufschwemmung einer Sandterrasse durch den Loschwitzbach in die Elbe hinein entstanden ist.
Die Furt kann damit auch zu einem besonderen Bild taugen, eine Tiefe, etwas sehr Bewegtes und darin zugleich auch Gefährliches, etwas permanent Fließendes zu durchschreiten.
Ich frage mich: ist nicht die Gemeinde wie eine große Furt des Lebens, in der uns Möglichkeiten und Hilfen eröffnet werden, bestimmte Lebensorte und dazu gehörige neue Ufer zu erreichen und zu bestehen?
Können wir nicht die wichtigen Handlungen der Kirche, die sich mit unserem Leben verbinden, als Furten verstehen?
Die Furt der Taufe: wenn ein Mensch geboren wird und in den Strom des Lebens hinein tritt – dass ihm und den Eltern die Zuversicht und das Vertrauen auf Gott mitgegeben werden.
Die Furt der Konfirmation, wenn Jugendliche in einer schwierigen Passage ihres Lebens hin zum Erwachsenwerden begleitet und ermutigt werden, wenn sie durch gefährliche Wasser von verlockenden Angeboten und geistigen Verführungen hindurch geleitet werden.
Und es ist eine Furt schönster Verheißung, wenn in der Trauung zwei liebende Menschen durch den Segen Gottes stark gemacht werden für einen gemeinsamen Lebensweg.
Am Ende geht es um die Furt des Todes, die uns die dunkelste zu sein scheint. Hier Menschen zu begleiten in ihrer Angst und Not und sie trösten zu können mit der Botschaft der Auferstehung und des Ewigen Lebens, – ist dies nicht eine ganz große Aufgabe?
Wir sehen, dass alle Arbeit einer Kirchgemeinde darauf ausgerichtet ist, das Leben durch den Glauben, durch Gottes Wort, tiefer zu verstehen und zu bewältigen, alles Denken und Verkündigen Furten schafft für unser geistiges Verlangen nach Wahrheit und Erkenntnis. Für diese so große Aufgabe, einander zu helfen, die Furten des Lebens zu durchschreiten, braucht es eine Gemeinde, die mit den Menschen verbunden ist, die ihnen nahe ist und die allen Menschen erlaubt, sich ihr auch ganz schnell zu nähern. Ein Hilferuf, von wem auch immer, muss schnell gehört und auch beantwortet werden können. Dafür braucht es räumliche Nähe und es braucht Mitarbeiter, die in einer Gemeinde hauptamtlich, d.h. für dieses Amt berufen und bezahlt, da sind.

Eine Kirche, die nicht mehr in der Lage ist, durch immer größere räumliche Ausdehnungen und immer weniger werdenden Mitarbeitern auf Lebenssituationen zu reagieren, muss sich nicht wundern, wenn Menschen sich von ihr abwenden und anderen Furten und Passagen mehr vertrauen. Die Welt ist voll von Verlockungen geistiger wie architektonisch ansprechender Passagen.

Biotope
Der oder das Biotop (gr. βíος bíos „Leben“ und τόπος tópos „Ort“) ist ein bestimmter Lebensraum einer in diesem Gebiet vorkommenden Lebensgemeinschaft (Biozönose). Ein Biotop ist in den Biowissenschaften ein Lebensraum von Organismen. (Wikipedia)
Der Bergriff Biotop im Zusammenhang der Kirche ist mir bei einer Tagung in Meißen begegnet. Wir sprachen dort über die künftige Struktur der Kirchgemeinden Dresdens. Dabei wurde von dem Referenten ein Modell für die Zusammenarbeit aller Dresdner Gemeinden vorgestellt. Entscheidender Ansatz war dabei: Zusammenlegung von Aktivitäten, Konzentration auf Kernaufgaben der Kirche, Vernetzung verschiedenster Angebote der Gemeinden.
Als Alternative zu diesem Zukunftsprojekt zusammengelegter Gemeinden wurde etwas ironisch belächelt der Begriff Biotop verwendet, d.h. eine Gemeinde versucht in sich etwas aufrecht zu erhalten, was es sonst nicht mehr gibt.
Mit gefiel dieser Begriff aber besonders gut, weil er etwas Lebendiges, Gesundes und auch Schönes assoziiert. Ich habe dann auch von unserer Gemeinde erzählt und konnte mich nicht enthalten, von ihr als einem schönen Biotop zu sprechen.
Gewiss begibt man sich mit diesem Begriff sofort in eine Nische oder einen idyllischen Rückzugsort. Umgangssprachlich wird Biotop auch für einen zu schützenden Raum verwendet, quasi letztes Rückzugsgebiet vor dem Untergang. Wissenschaftlich aber wird der Begriff wertneutral verwendet als Lebensraum für eine bestimmte Spezies von Tieren, Pflanzen oder anderen Lebewesen. Ein Bachlauf, an dem Sumpfdotterblumen üppig gedeihen, ist ein Biotop für diese Pflanzen. Ein feuchter Grund wie der Wachwitzgrund, in dem Feuersalamander leben, ist für ein Biotop für diese Tiere.
Ein Ort wie die Landschaft am Elbhang, an dem viele kulturell und religiös geprägte Menschen leben, ist ein Biotop für diese „Spezies“ Mensch.
Das klingt vielleicht merkwürdig, aber es richtet unseren Blick auf uns selbst, auf den Menschen, wie wir ihn sehen, mit welchen Bedürfnissen in welchen Lebensräumen.
Biotop wäre als auf den Menschen angewandter Begriff ein Raum, in dem wir uns ganz unserem Wesen gemäß entfalten können.
Freilich entsteht dabei sofort die Frage, was wir konkret als unser Wesen definieren und was uns dann gemäß wäre. Die Komplexität dieser Fragestellung übersteigt allerdings die in einem solchen Beitrag gegeben Möglichkeiten.
Als Christen können wir hier aber an den Auftrag Gottes denken, den er den Menschen im Garten Eden mitgibt: Als Ebenbild des Schöpfers sollen wir den Garten Erde bebauen und bewahren. Dieser Auftrag ist für mich ganz tief mit der Religiosität des Menschen, seiner Demut vor Gott, verbunden. Und er ist damit auch ganz tief verbunden mit aller Kunst und Kultur, mit der Wahrnehmung der Schönheit und Harmonie der Dinge als einer Lebenskultur. Wir haben mit unserer Landschaft eine äußerst glückliche Voraussetzung für ein erfülltes, humanes Leben, für ein Biotop für den homo religiosus als einem ganzheitlichen Menschen:
Wir haben schöne Wohnräume in Häusern mit großer Individualität und künstlerischem Anspruch, durchgrünte Gärten voller beglückender Atmosphäre, offene Lebensräume mit der Weite des Flusstales und dem Blick auf die Stadt, Lebensräume, die Kinder und Familien wie auch Senioren und allein lebende Menschen gleichermaßen genießen können, wir haben Schulen und Kindergärten, medizinische und pflegerische Einrichtungen und vieles mehr. Und wir haben wunderschöne Kirchen, die mit ihren Türmen allen Menschen sichtbar sind und die mit ihren Glocken rufen und erinnern.
Hier zu leben und zu wohnen, ist eine unverdiente Gunst in unserer Biografie. Die Kirche und die Gemeinde sind deshalb ein Ort, dieses Biotop, diesen Lebensraum, immer wieder neu als Geschenk und Auftrag Gottes zu bedenken und dafür zu danken. Die Kirche kann und muss deshalb auch der Ort sein, dieses Bewusstsein zu bewahren gegen alle Veräußerlichung und Materialisierung.
Deshalb ist sie – die Kirche – auch so wichtig für die Menschen und deshalb muss sie auch in der Mitte unseres Lebensraumes bleiben durch ihren Geist, ihre Freude, ihre menschliche Kultur. In dem Maße, wie sie in ihrer Verkündigung die tiefen Fragen unserer Lebens anspricht und sie in den weiten Horizont des göttlichen Geheimnisses hineinstellt, wie sie von Zeit und Ewigkeit erzählt, ist und bleibt sie ein essentielles Fundament des Lebens und lässt sie den Lebensraum zum Biotop werden.
Auch wenn der Begriff des Biotops in der Gefahr steht, den Blick lokalpatriotisch zu verengen, einhergehend mit dem Bedauern gegenüber andere Menschen in anderen Gebieten und Gemeinden, liegt in ihm gerade auch eine Chance, Leitbild oder Leitvision für alle Orte unsere Erde zu werden: Sieh deinen Ort, deine Stadt, deine Landschaft mit diesen Augen – wie gut ist sie schon und was fehlt ihr noch, dass du sagen kannst: Hier gibt es ein erfülltes Leben?
Gerade, wenn wir uns unserer „biotopischen“ Gunst so bewusst werden, und gerade im dem Wissen, wie viele Orte unseres Landes und der Welt ein zerschundenes Antlitz tragen, wird sich daraus der Impuls entwickeln, anderen Menschen und Landschaften helfend und unterstützend nahe zu sein.
Gerade weil wir in einem Biotop leben, einem unserem Menschsein sehr gemäßen Raum, sind uns Worte wie Solidarität, Unterstützung und Teilhabe keine Fremdworte, sondern Anliegen und Vision für andere.
Im Biotop versuchen wir nachzuleben und nachzusprechen, was Gott am Ende des 6. Schöpfungstages empfand: Und Gott sah an, alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut. Diese Lebenshaltung, dieser Glauben und dieses Vertrauen und dieses sich Er-Freuen, – dies sind Wärmeströme für die Zukunft unserer Gemeinde und unserer Kirche.